Im Café 30.10.21

Tischplatte

Ich sitze allein im Café.

Alle sitzen draußen, nur ich nicht. Durch ein großes Fenster schaue ich auf zwei Frauen im Gespräch. Es kommt mir so vor als kenne ich beide.

Die eine hat einen wunderbaren Kurzhaarschnitt, der auch mir stehen könnte.

– Gedanken halt –

Ich schreibe jetzt jeden Morgen wenigstens ein paar Zeilen.

Für mein Buch. Eigentlich sind es zwei. Die Neapelstory und mein Leben als Eo.

Mit Kindheit und Jugend bin ich schon ganz gut vorangekommen. Beim Schreiben kommt vieles wieder hoch. Ich sehe jetzt sehr deutlich, dass ich Hilfe und Verständnis gebraucht hätte. Wo wäre ich jetzt? Damals wäre es ein steiniger Weg geworden, zu dem ich sicher nicht die Kraft gehabt hätte.

Heute hätte ich ganz andere Möglichkeiten. Ich könnte meine Community auf Instagram finden, könnte mich in der geschützten Anonymität mit Menschen austauschen, die meine Nöte verstehen. Die Gesellschaft ist heute eher auf solche wie mich eingestellt.

Jetzt, mit fast sechzig, bin ich einigermaßen versöhnt mit meiner Geschichte.

Ich sehe mich nicht mehr als verhinderter trans Mann, der ich in einer freien Gesellschaft geworden wäre. Ich lebe jetzt non binär, was meinen weiblich ausgestatteten Körper mit meinem ins männliche tendierenden Geist verbindet. Ich kann mittlerweile alle meine Seiten als zu mir gehörend akzeptieren und meine Vollversion genießen.

Noch immer treffe ich vor allem Menschen, die da nicht mitkommen, denen ich mich nicht erklären kann.

Zum Glück verstehen meine Kinder mich. Bei M bin ich mir nicht sicher. Er versucht es, lieb wie er ist, aber ich glaube, seine Vorstellungskraft kommt da nicht wirklich mit.

Vielleicht unterschätze ich ihn da aber auch

Was mein Coming-out anderen Menschen gegenüber betrifft, bin ich noch weit entfernt, mich erklären zu wollen.

Wenn es die Situation erlaubt, werde ich auf Nachfrage nichts verleugnen. Soviel steht fest.

Einen Gesprächsansatz bietet manchmal mein Jupiteramulett. Auf Nachfrage erkläre ich immer, dass Menschen in weiblich und männlich eingeordnet werden, von der Venus oder vom Mars. Daher kommen die Symbole Männlich: ♂Weiblich: ♀. Es sind die Planetensymbole, mehr nicht. Deshalb trage ich das Symbol für Jupiter ♃ , um deutlich zu machen, dass ich mich nicht zuordnen lasse.

Seit Februar 2021 lebe ich schon (endlich) mit dem Konzept und meinem neuen Selbstverständnis, mich nirgendwo einordnen zu müssen. Endlich mag ich alle Seiten an meinem Körper und meinem Gesicht. Ich kann andere Fotos von mir machen, ich mag es, mich auf Videos zu zeigen. Ich habe das Gefühl, mich damit auch äußerlich zu verändern. Meine Ausstrahlung fällt auf. Ich bin in meine Konturen gewachsen. Ich fülle mich selbst vollständig aus. Ich denke, das klingt ungewöhnlich, aber besser kann ich es nicht beschreiben.

Ich bin mir sicher, dass auch mein Umfeld davon profitiert, auch wenn ich mich nicht oute. Ich bin freier und vor allem angstfrei. Ich habe nichts zu verlieren.

Gestern Abend hatte ich eine schöne Empfindung. Wir waren eingeladen und ich wollte mich festlich kleiden. Anstatt wie früher, es zu hassen, mich in Kleid, hohe Schuhe und Makeup zu zwingen, war ich mir positiv bewusst, dass ich meinen weiblich gelesenen Körper mit den dafür konstruierten Attributen ausschmücken kann. Ich bin in eine für den Anlass passende Rolle geschlüpft. Ich musste mich nicht verbiegen, mich nicht hassen. Ich habe es genossen, mich zu verkleiden. Wo ich sonst den flachen Bustier anziehe, damit meine Brüste nicht auffallen, habe ich den extra Push Up BH gewählt. Ohrringe, Makeup, Parfüm – alles habe ich dem Anlass entsprechend gewählt und nicht, weil ich eine Frau sein wollte. Ich habe mich sehr wohl gefühlt. Ganz anders als früher.

Kleidung sollte genau wie Menschen, geschlechtsneutral betrachtet werden. Warum können Körper nicht einfach so lange unwichtig sein, bis es zu den Gelegenheiten kommt, wo die spezifischen Ausprägungen gebraucht werden?

Wer toll im Kleid aussieht, sollte es anziehen können, ohne dass es zu Irritationen bei den Mitmenschen kommt. Leuchtendes Beispiel ist für mich Stephane Bonutto, der sehr selbstbewusst und sehr männlich, die Kleidung trägt, die ihm gefällt und die ihm fantastisch steht. Noch nennen wir es Frauenkleidung. Wenn mehr Menschen wie Stephane so an die Öffentlichkeit gingen, würden wir uns nach und nach an den Anblick gewöhnen. Kleider haben kein Geschlecht!

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